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„Wenn‘s hilft, dann bin ich eben schuld“, sagt Merkel lakonisch

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Migrationsbilanz

„Wenn‘s hilft, dann bin ich eben schuld“, sagt Merkel lakonisch

 

Von Philipp WoldinPolitischer Korrespondent
Stand: 07:44 Uhr|Lesedauer: 5 Minuten
© Gordon Welters
Angela Merkel im Gespräch mit Markus FeldenkirchenQuelle: www.GordonWelters.com/Gordon Welters
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Im Berliner Admiralspalast verteidigt die Altkanzlerin ihre Entscheidung von 2015. Merkel fordert eine scharfe Abgrenzung der Union zur AfD. Ihre Kritik an Bundeskanzler Merz erneuert sie.

 

Auf den Fluren des Berliner Admiralspalastes mischt sich an diesem Abend ein ungewöhnliches Publikum: Gruppen junger Frauen, Schnurrbart-Hipster mit Jutebeuteln und beseelt wirkende Rentner. Sie alle machen Selfies vor „Spiegel“-Covern mit Angela Merkel vergangener Tage. Die 1700 Plätze für ihren Auftritt waren blitzartig ausverkauft – die frühere Bundeskanzlerin zieht noch immer.

 

In diesen Tagen wird viel über die Versäumnisse Angela Merkels und deren Folgen für das Land geschrieben. Dabei lässt sich leicht vergessen, wie viele treue Wähler und Anhänger die Kanzlerin a.D. überall in der Republik hatte – und immer noch hat. Mit Merkel, das wird an diesem Abend klar, verbinden viele Menschen bessere, weil übersichtlichere Zeiten. Trotz allem. Besonders bei einem Thema wird das Publikum in Beifallsstürme ausbrechen, dazu aber später mehr.

 

Die Kanzlerin ist weiter auf Deutungstour durch die Republik. Diesmal lässt sie sich von „Spiegel“-Reporter Markus Feldenkirchen befragen. Der bemüht sich als Moderator, der Altkanzlerin „ehrliche Momente“ zu entlocken, wie es in der Ankündigung hoffnungsfroh heißt.

 

Dann verlischt das Licht, Auftritt Merkel im dunkelblauen Hosenanzug, hoher Nostalgie-Faktor. Ein bisschen Winken und direkt ein Geständnis. Klar, verfolge sie heute noch die Nachrichten und bleibe ein politischer Mensch, sagt die frühere Bundeskanzlerin. „Aber ich setze mich doch jetzt nicht um 9 Uhr vor den Fernseher und schau die Haushaltsdebatte.“ 16 zehrende Jahre Bundeskanzlerin reichen. Jetzt sind die anderen dran.
Es geht schnell um Merkels Migrationspolitik, natürlich. Auf die Polarisierung der Gesellschaft angesprochen, sagt Merkel: „Von der Idee, den einen Schuldigen zu finden, wird die Zukunft nicht besser. Wenn’s hilft, bin ich eben schuld.“

 

„Das hätte ich für uns als Land als unwürdig empfunden“

Sie habe mit ihrem „Wir schaffen das“ damals die Landräte, Bürgermeister und Ehrenamtlichen ermutigen wollen, verteidigt sie ihren berühmten gewordenen Drei-Wort-Satz. Ihre Entscheidung, die offenen Binnengrenzen in jenem September 2015 nicht zu schließen, beschreibt sie weiterhin als Gewissensentscheidung. „Die Frage war doch: Begegnen wir den Flüchtlingen mit Würde oder setzen wir Wasserwerfer gegen sie ein? Das wollte ich auf keinen Fall tun. Das hätte ich für uns als Land als unwürdig empfunden.“ Der Saal applaudiert lange.

 

Haben wir es denn jetzt nun geschafft? „Es ist wahnsinnig viel gelungen. Wir haben sehr viel geschafft“, attestiert die Altkanzlerin, „aber natürlich nicht alles.“ Es gebe nach wie vor die Aufgabe, gegen Schleuser und Schlepper vorzugehen. Die Integration sei nicht vollständig gelungen, die Behörden zu wenig effektiv, Menschen ohne Bleibeperspektive wieder in ihre Heimatländer zurückzuführen.

 

„Viele dieser Menschen leisten einen Beitrag für unser Land“

Der Altkanzlerin missfällt allerdings, wie in Deutschland über Asylbewerber geredet wird. Die Flüchtlinge, die gut Deutsch sprächen und etwa als Ärzte und Krankenschwestern oder im Service arbeiteten, hätten ein „gutes Wort“ verdient. „Viele dieser Menschen leisten einen Beitrag für unser Land.“ Der nächste Szenen-Applaus im Saal.

 

Dass auch islamistische Gewalttäter gekommen seien, gehöre zu den sehr bedrückenden Erfahrungen ihrer 16-jährigen Amtszeit, sagt die Altkanzlerin.

 

Merkel räumte auch ein, dass die vielen Flüchtlinge, die seit 2015 nach Deutschland kamen, sicherlich zum Aufstieg der AfD beigetragen hätten. Dennoch: „Der Preis anders zu handeln, wäre mir zu groß gewesen“, sagte sie. Zudem müsse es noch andere Gründe für den Aufstieg der Partei in der Wählergunst geben. Als sie aus dem Amt schied, habe die AfD bei elf bis zwölf Prozent gelegen. Zuletzt sahen Umfragen die Partei gleichauf mit der Union.

 

Wenn Journalist Feldenkirchen ihr die „Sozialdemokratisierung“ der CDU unter ihrer Führung vorhält, ficht das Merkel nicht an: „Ich bin mit meinen Positionen klassische Stammwählerin der CDU.“ Die Union müsse Wähler von rechts integrieren, aber „nicht um den Preis, die eigenen Werte aufzugeben“, so definiert Merkel das Anforderungsprofil.

 

„Mehrheiten mit der AfD zu suchen, halte ich für falsch“

„Sind Sie für ein AfD-Verbotsverfahren?“, fragt der Journalist. Darauf will Merkel sich als „Nicht-Juristin“ nicht einlassen. Aber sie fordert ihre Partei zu einer unmissverständlichen Haltung auf. „Wir müssen alles tun, damit die AfD nicht stärker wird“, sagt Merkel. Es dürfe keine Zusammenarbeit mit der Partei geben. „Mehrheiten mit der AfD zu suchen, halte ich für falsch.“

 

Damit bekräftigte die frühere Bundeskanzlerin ihre Kritik an der Entscheidung des damaligen Unions-Spitzenkandidaten Friedrich Merz, im Bundestagswahlkampf 2025 einen Migrationsbeschluss im Bundestag notfalls mit den Stimmen der AfD durchzusetzen. Auch die Zurückweisung von Migranten an den deutschen Grenzen sieht sie weiterhin kritisch.

 

Außenpolitisch immerhin ist Altkanzlerin Merkel voll des Lobes für den amtierenden Bundeskanzler. „Es ist erleichternd, ehrlich gesagt, dass Deutschland wieder mit Charme und Stimme in Europa und der Welt auftritt.“ Als Staatsbürgerin finde sie es gut, wie Kanzler Merz hier agiere. Die Nato müsse mit militärischer Stärke und Aufrüstung verhindern, dass Putin den Westen angreife.

 

Ein großer Teil des Abends widmet sich Feldenkirchen auch Merkels persönlicher Biografie. Von Disco-Nächten in der Physik-Fakultät, einer Schachtel Zigaretten pro Tag, die Merkel früher wegrauchte, bis hin zum 15-minütigen Gespräch, das dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl ausreichte, um sie zur Frauenministerin zu machen – hier kann Merkel mit schnoddrigem Humor beim Publikum punkten.

 

Meist allerdings, wenn es (tages-)politisch spannend werden könnte, lässt Merkel den „Spiegel“-Reporter abtropfen. Ein Zucken mit der Augenbraue, ein paar lange Sekunden Stille, der Mund kräuselt sich. Dann kommt ein Satz wie: „Da machen wir jetzt keine Meldung draus, was eine Ex-Bundeskanzlerin darüber denkt.“

 

Feldenkirchen verweist dann im Schlusssegment auf den verstorbenen Altkanzler Helmut Schmidt (SPD), der regelmäßig von ARD-Talkerin Sandra Maischberger zu den großen Fragen des Lebens interviewt wurde. Für solch eine Paarung mit Merkel könne er sich anbieten, sagt er scherzhaft. Merkel entgegnet: „Na, jetzt bin ich ja erst mal heute da.“

 

Als die Lichter angehen, steht der Saal. Und draußen im Foyer vor den „Spiegel“-Covern schießen danach wieder Handys in die Höhe.