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Wehrpflicht - Hat das Gewissen ausgedient?

Debatte über die Wehrpflicht :
Hat das Gewissen ausgedient?
28.09.2025, 10:58Lesezeit: 7 Min.
Bundeswehrsoldaten des Panzergrenadierbataillons 401 während einer Übung (Archivfoto)
Für das Grundgesetz war das Gewissen als Grund für eine Kriegsdienstverweigerung eine wichtige Markierung der jungen Demokratie. Um so auffälliger ist die Abwesenheit des Begriffs in heutigen Diskussionen.

 

Die Bedrohungssignale häufen sich: Drohnen über Polen, Kampfflugzeuge über Estland, Drohnen über Kopenhagen. Politiker wie der CDU-Abgeordnete Roderich Kiesewetter wollen die Debatte über die Wehrpflicht daher schon seit Langem zu einer Debatte über die Kriegsertüchtigung der ganzen Gesellschaft ausweiten. In der Bundeswehr-Zeitschrift „Innere Führung“ forderte er einen veränderten „Mindset für einen gesamtgesellschaftlichen Ansatz der Wehrhaftigkeit“. Selbst der linke Autor Helmut Lethen ließ sich jetzt mit dem Satz zitieren: „Der Intellektuelle muss sich an den Gedanken der Wehrhaftigkeit annähern.“

 

Tatsächlich macht die Bedrohungslage bewusst, dass die Realisierung des eigenen Universalismus machtpolitische und im Zweifel auch militärische Voraussetzungen hat, die sich nicht von selbst verstehen. Weniger betont wird zurzeit, dass der Universalismus zu seiner militärischen Verteidigung aber auch in einem Spannungsverhältnis stehen kann. Das sperrige Widerlager zur Kriegsertüchtigung, das das Grundgesetz in die DNA der Bundesrepublik eingeschrieben hat, fehlt in den aktuellen Debatten fast völlig: das „Gewissen“. Es ist eine Kategorie, die 1949 den größtmöglichen Abstand zum damals gerade erst überwundenen Totalitarismus markieren sollte. In der scharfen und folgenreichen Formulierung des Artikels 4 des Grundgesetzes heißt es: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ Selbst in der äußersten Situation, in der sich der Staat befinden kann, im Krieg, soll also der Vorrang des einzelnen Gewissens vor den Bedürfnissen des Kollektivs gelten. Unter dem Nationalsozialismus waren alle Kriegsdienstverweigerer, mehrheitlich Zeugen Jehovas, unter der Anschuldigung der „Wehrkraftzersetzung“ hingerichtet worden.
Das Gewissen war dann auch ein Schlüsselbegriff in der 1955 gegründeten Bundeswehr, um zu verdeutlichen, was diese Armee in der Demokratie von ihrem Vorläufer im Hitler-Staat unterscheidet. Noch heute heißt es auf der Website des Bundesministeriums der Verteidigung: „Die Bundeswehr kennt keinen unbedingten Gehorsam. Die letzte Entscheidungsinstanz bleibt das Gewissen jedes Einzelnen.“ Nach anfänglichem Zögern wurde das Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 als Vorbild der „Staatsbürger in Uniform“ eta­bliert; den damaligen Offizieren bescheinigte man einen „Aufstand des Gewissens“.

Wird das Verweigerungsrecht noch gelten?

Doch mittlerweile ragt der Begriff ziemlich fremd in die Gegenwart hinein. Bis zur Aussetzung der Wehrpflicht 2011, vor allem in den Siebziger- und Achtzigerjahren, war er unter älteren Schülern der Dreh- und Angelpunkt vieler oft mit beträchtlichem argumentativem Aufwand betriebener Diskussionen über die Frage, ob man zum „Bund“ gehen oder „verweigern“ solle. Heute sprechen sich junge Leute laut ZDF-Barometer zwar mehrheitlich gegen die Wehrpflicht aus. Aber die Gewissensnot, eine Waffe in die Hand nehmen und im Krieg möglicherweise Menschen töten zu müssen, spielt dabei in allen Umfragen und sonstigen Äußerungen kaum eine Rolle.
Wichtige Argumente sind stattdessen die Nachteile auf dem Arbeitsmarkt, die Gleichberechtigung sowie die Unlust, etwas für einen Staat zu tun, der zu wenig für einen selbst tue. Und die Generationengerechtigkeit: Es gehe um „eine Entscheidung über unsere Körper, unser Leben – getroffen von alten Menschen, die nicht betroffen sind“, heißt es jetzt in einem Aufruf zu einem „Deutschen Jugendrat zum Thema Wehrpflicht“. Sollte die Wehrpflicht tatsächlich kommen, wird als Möglichkeit, ihr zu entgehen, voraussichtlich auch das Gewissen wieder mehr in den Vordergrund rücken. Doch es ist bemerkenswert, dass es erst einmal so sehr aus dem Blick geraten ist.
Rekruten des Logistikbataillons 171 üben auf einem Standortübungsplatz in Sachsen-Anhalt den Zeltbau.
Rekruten des Logistikbataillons 171 üben auf einem Standortübungsplatz in Sachsen-Anhalt den Zeltbau.dpa
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Sogar hohen Richtern scheinen die Kategorien des Grundgesetzes nicht mehr geheuer zu sein. In einem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 16. Januar 2025 hieß es, der Senat erachte es „für – jedenfalls prinzipiell – nicht undenkbar, dass ungeachtet des besonders hohen Ranges der in Art. 4 GG verbürgten Gewissensfreiheit auch die deutsche verfassungsrechtliche Ordnung es gestatten oder sogar erfordern könnte, den Schutz des Kriegsdienstverweigerungsrechts in außerordentlicher Lage gegenüber anderen hochrangigen Verfassungswerten zurücktreten zu lassen.“ Im Falle eines Krieges soll das Kriegsdienstverweigerungsrecht aus Gewissensgründen also möglicherweise nicht gelten. Dieses Urteil verwundert, weil das Grundgesetz den entsprechenden Absatz ja gerade für die „außerordentliche Lage“ eines Krieges vorgesehen und ihn aller Relativierung durch „andere hochrangige Verfassungswerte“ entzogen hatte. Erst später wurde der Passus dann auch auf die Wehrpflicht, also die Ausbildungszeit für einen Krieg, angewendet. Wie sehr müssen sich die Kategorien im Lauf der Jahrzehnte geändert haben, dass solch ein offensichtlicher Bruch mit einem der ersten Artikel des Grundgesetzes „nicht undenkbar“ erscheint?

Abkehr vom Totalitarismus

Unumstritten war die Bezugnahme auf das Gewissen schon damals im Parlamentarischen Rat nicht, der über das Grundgesetz beriet. Der spätere erste Bundespräsident, Theodor Heuss von der FDP, warnte vor einem „Massenverschleiß“ des Gewissens im Ernstfall. Staat, Demokratie und Militärpflicht würden untrennbar zusammengehören. Doch es setzte sich die Position von Fritz Eberhard von der SPD durch: „Ich glaube, wir haben hinter uns einen Massenschlaf des Gewissens. In diesem Massenschlaf des Gewissens haben die Deutschen zu Millionen gesagt: Befehl ist Befehl und haben daraufhin getötet. Darum glaube ich, gerade in dieser Situation nach dem Kriege und nach dem totalitären System, wo wir Schluss machen müssen mit der Auffassung: Befehl ist Befehl – wenn wir nämlich Demokratie aufbauen wollen, ist dieser Absatz angebracht.“
Der Politikwissenschaftler Ingo Zander hat in den Haltungen von Heuss und Eberhard die beiden politischen Idealtypen wiedererkannt, die Hannah Arendt den vertikalen und den horizontalen Gesellschaftsvertrag nannte. Im vertikalen, vor allem von Thomas Hobbes vertretenen Modell schließt der Staat einen Vertrag mit dem einzelnen Bürger, der dafür, dass dieser ihm Sicherheit bietet, seine Souveränität und bei Bedarf auch Rechte abtritt; hier ist die Demokratie eine Funktion des Staats. In der von Arendt bevorzugten horizontalen Version schließen dagegen die Einzelnen untereinander einen Vertrag und bedienen sich dafür bloß des Staats; ihre Souveränität und Rechte werden von diesem daher nicht eingeschränkt. Dass der Staat sogar im Krieg eine Grenze seiner Macht bei den Gewissen der Einzelnen finden soll, kann man als eine sehr radikale Parteinahme der Bundesrepublik für das horizontale Modell verstehen.

Für viele Juristen eine Leerformel

Wenn der Begriff, auf dem dieses Selbstverständnis gründet, nicht mehr einleuchtet, ist daher mehr als nur die Haltung zum Militär betroffen. Allerdings gibt es Gründe dafür. „Gewissen“ ist kein Rechtsbegriff und lässt sich daher schwer in juristische Kategoriensysteme einordnen. Unter vielen Rechtswissenschaftlern gilt der Begriff daher schon lange als „Leerformel“, auf die immer seltener Bezug genommen wird. Wie heikel seine Anwendung sein kann, zeigte sich an den zweifelhaften Kriterien der Gewissenstribunale, die Wehrdienstverweigerer vor allem bis in die Achtzigerjahre hinein über sich ergehen lassen mussten – und ebenso an den taktischen und strategischen Ratgebern, mit welchen Tricks und Finten diese Prüfungen zu bestehen seien. Als fragwürdig und irreal erwies sich vor allem die geforderte Isolation des Gewissens von allen politischen Begleitumständen. Wenn einem etwa das Gewissen nicht pauschal verbot, eine Waffe in die Hand zu nehmen, um zum Beispiel den Angriff eines Raubmörders auf die eigene Familie abzuwehren, wohl aber in einer politischen Konstellation, in der man Zweifel an der Freund-Feind-Definition der Regierung hat, fiel man durch.
Das aktuelle Handbuch „Innere Führung“ der Bundeswehr von 2023 erwähnt das Gewissen zwar noch auf den Seiten 116 und 130, doch an prominenterer Stelle kommt „die freie und autonome Persönlichkeit als Zielvorstellung“ vor. Auch diese Figur schillert, da sie einerseits „bereits einen hohen Wert an sich“ darstelle, andererseits aber erst dann als vollendet gilt, wenn sie die „Pflicht als Notwendigkeit“ erkennt, „um die Freiheit zu schützen“. Dennoch klingt „autonome Persönlichkeit“ als Träger der Selbstbestimmung moderner, da diese ihre Werte und Meinungen unmittelbar selbst wählt. Im Begriff des Gewissens steckt dagegen noch etwas anderes: eine Art selbstkritische Instanz gegenüber eigenen Neigungen und Vorurteilen. Dieses Korrektiv wurde ursprünglich als eine universalistische, allen Menschen gemeinsame moralische Stimme verstanden, die zugleich etwas nicht austauschbar Persönliches ist – also ganz subjektiv und ganz objektiv zugleich. Oder in den Worten des Handbuchs „Innere Führung“ von 1957: „Es ist nicht der Wille des Höchsten, dass der Vereidigte seine sittlichen Maßstäbe nunmehr vom Eidträger bezöge, dass sein Gewissen von nun an zu schweigen hätte.“

Aktivismus und Selbstoptimierung

Die Frage ist: Steht, wenn diese Auffassung nicht mehr plausibel erscheint, wenn Individualisierung vornehmlich ohne begleitende selbstkritische Intro­spektion verstanden wird, möglicherweise auch das ursprüngliche Demokratiemodell der Bundesrepublik auf dem Spiel? Auch hinter der auf den ersten Blick progressiven Fassade, die die Bundeswehr in ihren jüngsten Kampagnen von sich zeigt, gibt sich die potentielle Ausweitung einer militärischen Logik zu erkennen. „Wie weit gehst du für unsere Demokratie?“, steht auf den Plakaten, auf denen der Militärdienst als eine Art Aktivismus für Freiheit, Frieden und Demokratie erscheint – obwohl die Bedrohung, die die Kampagne veranlasst, anders als bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr ja eigentlich auf den traditionell begrenzten Zweck der Landesverteidigung hinausläuft.

 

Die Kehrseite der idealistischen Sinngebung aber ist, dass eine Regierung sie benutzen könnte, um einen Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zu betreiben. Den anderen Schwerpunkt der Werbung bildet die Selbstoptimierung: „Denn bei uns hast du die Chance, das Maximum aus dir herauszuholen, deine Grenzen zu erkennen – und sie zu überwinden.“ Das Tragische an jedem Krieg und des Versuchs, ihn durch Kriegsvorbereitung zu verhindern, wird durch eine solche Militarisierung der Psyche zum Verschwinden gebracht, genauso wie in der verpixelten Computerspiel-Optik vieler der neuen Plakate. Dass Kriegsdienstverweigerer ihren Antrag heute in einem „Karrierecenter“ der Bundeswehr abgeben müssen, passt dazu.
Vor dem Hintergrund der näher rückenden Wehrpflicht gibt die Ausklammerung der Gewissensfrage eine Gesellschaft im Übergang zu erkennen, die bei aller Technokratie ihrer selbst nicht mehr so ganz sicher ist: Worauf soll sich die Demokratie letztlich gründen, wenn sie von innen und außen bedroht wird, was ist die Stellung des Einzelnen in ihr? Das Gute ist, dass man nicht die metaphysischen Voraussetzungen des Begriffs teilen muss, damit er seinen vom Grundgesetz ihm zugedachten Zweck erfüllt: die Selbstbegrenzung zu markieren, die sich der Staat nach dem letzten großen Krieg auferlegt hat.