Jolanda Spiess-Hegglin: «Kein Journalist war in jener Nacht Zeuge»
Die ehemalige Zuger Politikerin wurde bezichtigt, eine Vergewaltigung erfunden zu haben. Nun wurde sie nach Jahren vom Verdacht entlastet. Doch der eigentliche Skandal ist, wie die Medien mit ihr umgegangen sind.
Im Zweifelsfall gegen Spiess-Hegglin: Bei der Berichterstattung über die ehemalige Zuger Politikerin vergassen selbst seriöse Medien die Grundregeln journalistischer Ethik. (Bild: Gian-Marco Castelberg)
Kürzlich traf ich auf jemanden, der mich noch nicht kannte. Eine Familie ist in unsere Nachbarschaft gezogen, die ursprünglich aus der Region stammt, die aber die letzten Jahre in Zentralamerika verbracht hat. Es tut gut, Leute kennenzulernen, die noch keine Geschichte mit meinem Gesicht verbinden.
Spätestens als die neue Nachbarin fragte: «Was machst du beruflich?», hatte ich keine andere Wahl. Ich musste erklären, warum ich heute meine Zeit darauf verwende, Leute zu beraten, die von Journalisten oder ganz normalen Wutbürgern in den sozialen Netzwerken durch den Dreck gezogen werden.
Ich begann ganz von vorne und erzählte meiner Nachbarin, wie ich als erfolgreiche Zuger Politikerin mit Aussichten auf einen Sitz im Nationalrat kurz vor Weihnachten 2014 an einer politischen Feier teilgenommen habe und am nächsten Tag mit einer Erinnerungslücke von mehreren Stunden, Unterleibsschmerzen und Benommenheit erwacht bin.
Ich führte aus, wie ich mich am nächsten Morgen im Krankenhaus auf Drogen und fremde DNA habe untersuchen lassen und wie man mir nach stundenlanger Wartezeit Blut abgenommen hat.
Dass die Ärzte sich verpflichtet fühlten, der Polizei Meldung zu erstatten, und wie gegen einen meiner Ratskollegen Ermittlungen aufgenommen wurden, weil er die letzte Person war, an die ich mich erinnere.
Ich erzählte, wie mich derselbe Mann später wegen Falschanschuldigung angezeigt hat. Dass der Staatsanwalt dieses Verfahren kürzlich eingestellt hat, weil sich herausgestellt hat, dass ich mir nichts habe zuschulden kommen lassen.
Für alles andere, das schmerzhafte andere, fand ich keine Worte. Ich verschwieg, wie sehr mich die ganze Angelegenheit heute noch belastet. Die Erinnerung an die vergangenen vier Jahre lösen regelmässig Albträume und depressive Episoden aus.
Als neulich die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft kam, war ich über Stunden wie gelähmt, ich musste mich am helllichten Tag schlafen legen. Doch meine Traumatisierung hat heute nur noch wenig mit den Vorfällen in jener Nacht zu tun, sondern vor allem mit der Art und Weise, wie die Medien mit meiner Geschichte umgegangen sind.
Der erste Artikel erschien an Heiligabend. Auf der Frontseite mit unseren Fotos und den Namen. Bis heute ist mir nicht klar, wer dem «Blick» die Information gesteckt hat: Jemand vom Spital, das die Polizei beizog, ohne dass ich danach verlangt hätte? Oder erfolgte der Hinweis an die Presse gar aus dem Polizeiumfeld? Jedenfalls musste ich mich gegenüber der ganzen Welt erklären, obwohl ich selbst nicht mehr rekonstruieren konnte, wie die Nacht verlaufen war. Damals war ich noch Co-Präsidentin der grün-alternativen Partei des Kantons Zug.
Wenige Tage nach dem Vorfall berief die Partei eine ausserordentliche Sitzung ein. Bereits damals gab es Rücktrittsforderungen. Man wollte keine Co-Präsidentin im Visier der Boulevardmedien. Stellen Sie sich vor: Sie überwinden Ihre Schamgefühle und vertrauen jemandem einen schrecklichen Verdacht an, doch ihr Gegenüber reagiert reflexartig mit Ungläubigkeit. Einfach so - ohne dass irgendetwas bewiesen oder widerlegt worden wäre.
Im Januar 2015 fand die erste Kantonsratssitzung nach dem Vorfall statt. Ich wollte unbedingt hingehen. Hatte Beruhigungsmittel genommen und fühlte mich wie in Watte gepackt. Der Medienzirkus an diesem Tag war überwältigend und gleichzeitig unangebracht, wenn man sich erinnert, wann zum letzten Mal ein so grosses Interesse an einer Zuger Kantonsratssitzung bestanden hatte: nach dem Amoklauf 2001, bei dem vierzehn Politiker ums Leben kamen.
Jedenfalls bahnte ich mir einen Weg durch die Kameras und Mikrofone in den Ratssaal. Eine «Blick»-Reporterin nahm sich einen Schemel und setzte sich ganz nahe neben mich, um mich mit dem Handy zu fotografieren und jede meiner Regungen via Live-Ticker zu vermelden. Auch wenn ich innerlich am Boden war, nicht mehr schlief und ass: Äusserlich gab ich mich kämpferisch. Ich hatte ja die Wahrheit auf meiner Seite, dachte ich. Am Ende würde alles gut kommen.
Dann kam die Wende. Die Staatsanwaltschaft teilte mit, dass der Nachweis auf K.-o.-Tropfen nicht erbracht werden konnte. Drogen seien wahrscheinlich nicht im Spiel gewesen. Toxikologen sagten mir, dass diese Aussage aus fachlicher Sicht nicht haltbar ist. Der Nachweis von K.-o.-Tropfen, unter deren Begriff eine ganze Reihe von narkotisierenden Substanzen fällt, ist schwierig, und ein negatives Testresultat widerlegt so gut wie nichts. Denn die infrage kommenden Stoffe sind bereits wenige Stunden nach Einnahme nicht mehr nachweisbar. Auch die Analyse, die von meinem Haar gemacht wurde, sagt nichts über einen einmaligen Konsum einer Substanz aus.
Rufmord auf Twitter
Die Staatsanwaltschaft hatte mich mit ihrer Mitteilung zum Abschuss freigegeben. Die Hemmungen der Journalisten fielen. Mit dem Nichterbringen des medizinischen Nachweises kehrten sie die Beweislast einfach um.
Der «Blick» startete eine Kampagne. Im Stundentakt erschienen Online-Beiträge über mich. Einmal nahm eine «Blick»-Reporterin per Telefon mit mir Kontakt auf. Unvorsichtigerweise ging ich ran und sagte: «Ich kann nicht sprechen, ich muss in die Therapie.» Eine Stunde später war ein Artikel online, dessen einzige Aussage war: Die Frau ist in psychiatrischer Behandlung, wir haben es immer gewusst, die spinnt.
Doch während der «Blick» aus ökonomischen Interessen handelte - meine Geschichte hatte schliesslich alles drin, was Klick-Zahlen garantiert: Sex, Politik, Drogen -, sahen andere darin politisches Potenzial. Der Ratskollege, gegen welchen ermittelt wurde, war SVP-Kantonsrat. Die «Weltwoche» fabrizierte daraus eine politische Geschichte: Linke Frau macht rechten Mann fertig.
Grossen Schaden aber richtete die «Zuger Zeitung» an. In Zug sind Medien und Politik sehr nah. Man spielt Tennis, feiert und trinkt. Man steckt sich Informationen zu und macht Deals. Ein Reporter hatte es besonders auf mich abgesehen. Seine gehässigen, mit Unwahrheiten gespickten Artikel sekundierte er mit bösartigen Kommentaren auf Twitter.
Einmal schrieb er einen Artikel mit der erfundenen Behauptung, ich sei zwei Tage vor der besagten Nacht bereits mit dem Ratskollegen unterwegs gewesen, das belege ja wohl die Einvernehmlichkeit des späteren sexuellen Kontakts. Die meisten Medien übernahmen diese Darstellung ungeprüft. Ich konnte beweisen, dass ich an dem Abend zu Hause gewesen war. Doch niemand griff meine Gegenbeweise auf.
Viele Ungereimtheiten
Irgendwann foutierten sich die Medien gänzlich um Ungereimtheiten des Falls. Zum Beispiel wurde die DNA des Kantonsratskollegen in mir und eine weitere, unbekannte männliche DNA in meiner Unterwäsche gefunden. Vermutlich musste also ein zweiter Mann involviert gewesen sein.
Bis heute liegt ausserdem im Dunkeln, wo ich zwischen halb zwei und drei Uhr in jener Nacht war. Die Polizei hat sich nie die Mühe gemacht, den Taxifahrer ernsthaft zu befragen, der vorgab, weder mich noch den Kantonsratskollegen jemals gesehen zu haben. Auch der Fahrtenschreiber seines Taxis wurde nicht ausgewertet. Ausserdem äusserte ich von Anfang an den Verdacht, dass auch mein Ratskollege unwillentlich unter Drogen gesetzt worden war. Schliesslich konnte auch er sich an so gut wie gar nichts mehr erinnern. Aber auch diese These wurde nie untersucht.
Doch zu diesem Zeitpunkt interessierten Indizien, die für meine Version der Ereignisse sprechen würden, längst keinen mehr. Egal, was ich tat oder sagte, es wurde mir zu meinen Ungunsten ausgelegt: Sie gibt sich stark und unbeirrt? So benimmt sich kein Vergewaltigungsopfer! Sie spricht mit klarer Stimme und tritt selbstbewusst vor die Medien? Keine Frage, die will einfach Aufmerksamkeit.
Die Journalisten hätten lieber gesehen, wie ich vor laufender Kamera stottere, weine, zusammenbreche. Je stärker ich mich zur Wehr setzte und versuchte, die Deutungshoheit über meine eigene Geschichte zurückzuerobern, desto heftiger wurden die medialen Gegenangriffe.
Irgendwann waren selbst die seriösen Medien am Ende mit ihrem Latein. Sie recherchierten nicht mehr, sie kommentierten. Artikel über mich fand man jetzt ausschliesslich im Meinungsteil der Zeitung. Respektierte Journalisten zeichneten von mir das Bild der berechnenden, mediengeilen Ehebrecherin, ohne mich je gesprochen oder getroffen zu haben. Ich war die Nervensäge, das Klageweib, wie mich einer nannte.
Dieselben Journalisten, die sich vorher geifernd auf meine Geschichte gestürzt hatten, wollten nun, dass ich endlich Ruhe gebe. Wohlgemerkt: Keiner von ihnen war in jener Nacht Zeuge. Und trotzdem hatten alle eine Vorstellung von der Wahrheit. «In dubio pro reo» - im Zweifelsfall für den Angeklagten -, dieser Rechtsgrundsatz wurde einfach ignoriert von Leuten, die eigentlich Profis ihres Fachs sein sollten.
Ihre eilig hingeworfenen Meinungen und Analysen waren von beispielloser Empathielosigkeit. Ob sie sich im Klaren waren, was sie damit anrichteten? Ihre Berichterstattung löste hasserfüllte Kommentare auf Facebook und Twitter aus. Leute, die mir noch nie begegnet sind, beschimpften mich als Lügnerin und Hure. Ich bekam Vergewaltigungs- und Morddrohungen. In dieser Zeit hatte ich jeden Tag Suizidgedanken.
Damals war mir nicht bewusst, wie ich mich gegen unfaire, unwahre Berichterstattung zur Wehr setzen konnte. Dass sich die Medien nicht hinter Leserbrief- und Kommentarschreibern verstecken dürfen, die mich der Lüge, des Ehebruchs und der Unaufrichtigkeit bezichtigen. Dass jeder gegenüber den Medien ein Recht am Wort hat und verlangen darf, dass Zitate zur Autorisierung vorgelegt werden, realisierte ich nicht. Erst nach Monaten begriff ich, was passierte: eine mediale Hetzjagd, die mich als Lügnerin vorverurteilte und meine politische Laufbahn für immer beenden sollte.
Ein Lichtblick
Ich habe mich damals entschieden, die Einstellung des Verfahrens gegen meinen Ratskollegen nicht anzufechten. Ich hatte keine Kraft mehr, und mir wurde klar, wie dünn die Beweislage war, dass ich ohne Drogennachweis nichts mehr in der Hand hatte. Die Belastung für mich und meine Familie wurde irgendwann zu gross. Kaum war der Entscheid rechtskräftig, zeigte mich mein Ratskollege wegen Falschbeschuldigung an.
Obwohl der Staatsanwalt das Verfahren gar nicht eröffnen wollte, zog sich die Sache drei Jahre hin. Drei Jahre, in welchen ich von den Medien massiv vorverurteilt und kriminalisiert wurde. Dass die Staatsanwaltschaft nun kürzlich festgestellt hat, dass ich damals nichts falsch gemacht habe, gibt mir Genugtuung.
Als ich am Boden lag, stützten mich nur noch ein paar wenige Menschen: Mein Mann, meine Eltern und Schwiegereltern standen immer hinter mir, litten aber auch stark unter der medialen Hetzjagd. Mein Arbeitgeber beschäftigte mich weiter. Er hätte mich entlassen können, denn in dieser schlimmen Zeit habe ich fast nichts mehr geleistet. Dass er es nicht tat, hat mit zwei Dingen zu tun: Erstens war er sich sehr bewusst, dass diese Kündigung einer weiteren Vorverurteilung gleichkommen würde. Zweitens konnte er mein Trauma nachvollziehen. Als ehemaliger Regierungsrat hatte er beim Zuger Amoklauf von 2001 einen Lungendurchschuss erlitten. Er verglich meine Situation oft mit seiner - mit dem Unterschied, dass er nach dem Vorfall von der Gesellschaft getragen wurde, während man mich fallenliess. Seine Arbeit bot ihm damals eine wichtige Struktur, die ihn durch den Alltag nach dem Attentat begleitete. Für die Grösse, die er zeigte, bin ich ihm ewig dankbar.
Der erste Lichtblick kam in Form einer Verurteilung. Ich hatte begonnen, Journalisten und ganz normale Leute, die mich auf Facebook oder Twitter verunglimpften, anzuzeigen. Allen sollte bewusst werden, dass sie nicht einfach ungestraft verleumden, beschimpfen und drohen dürfen. Sie sollten erfahren, dass es ein Gesetz gibt, das sie zu Aufrichtigkeit und Anstand gegenüber ihren Mitmenschen verpflichtet.
Der «Weltwoche»-Journalist, der mich der Lüge bezichtigt hatte, wurde vom Gericht wegen übler Nachrede verurteilt. Das Gericht befand, dass er seine Anschuldigungen im Artikel nicht belegen konnte. Dass er mich ungerechtfertigt vor meinen Mitmenschen herabgesetzt hatte.
Doch der eigentliche Befreiungsschlag kam in Form einer winzigen Zeitungsnotiz. Der neue publizistische Leiter der «NZZ-Regionalmedien», zu der die «Zuger Zeitung» neu gehört, entschuldigte sich öffentlich für die Berichterstattung über meine Person. Sie sei vorverurteilend und in Teilen falsch gewesen.
Dieses Eingeständnis änderte viel. Leute kamen auf mich zu und anerkannten endlich meinen Mut und meine Ausdauer. Ich hatte immer einen harten Kern von Leuten, die mich unterstützten. Doch jetzt bekam ich Anerkennung auch von jenen, die mich aufgrund der Medienberichterstattung kritisch sahen oder bereits vorverurteilt hatten.
Inzwischen habe ich eine Organisation mit dem Namen «#NetzCourage» gegründet. Sie soll für Menschen da sein, die Opfer von Hass im Internet werden. Ich werde für Vorträge und als Beraterin gebucht, meine Organisation erhält Aufträge von staatlichen Institutionen wie Polizeikorps und Strafvollzugsanstalten. Wofür ich mich heute einsetze, meine Arbeit, mein ganzes neues Leben: Alles nahm seinen Anfang in jener Dezembernacht vor bald vier Jahren. Es ist nicht ein Schicksal, das ich auf mich nehmen muss, sondern das, wofür ich einstehen will im Leben.
Früher hatte ich zwei herausstechende Wesenszüge: Offenheit und Fröhlichkeit. Ich strahlte die Leute an, begegnete ihnen offen. Heute bin ich skeptischer, unsicherer. Es braucht viel, bis ich jemandem wirklich vertraue.
Früher dachte ich, die Medien seien die vierte Gewalt. Ich respektiere die Arbeit von Journalisten immer noch, ich kenne mehr als nur einen «Blick»-Reporter, die ein sauberes, aufrichtiges Handwerk pflegen.
Und trotzdem gibt es Journalisten, die keine Skrupel haben, den Justizapparat auszuhebeln und Menschen zu verurteilen, bevor sie vor Gericht gestanden sind. Diese Sorte von Journalisten scheint von Fällen wie meinem angezogen zu sein wie Fliegen vom Misthaufen.
Wie Kachelmann
Ich habe mich mit dem TV-Meteorologen Jörg Kachelmann angefreundet. Es mag seltsam klingen, aber er hat dasselbe durchlebt - einfach aus der Perspektive des Mannes, der sich mit Vergewaltigungsvorwürfen konfrontiert sieht. Wir sind beide Medienopfer, sind Stigmatisierte. Wir haben erlebt, wie schlecht die Gesellschaft umgehen kann mit Geschichten, die eben nicht schwarz-weiss sind. Haben gesehen, wie die Leute ins Schleudern geraten, wenn nicht sofort feststeht, wer Täter und wer Opfer ist. Konflikte im Graubereich sind der Schwachpunkt der Gesellschaft. Dass wir beide unter diesen Graubereich fallen, verbindet mich mit Kachelmann.
Ich habe drei Kinder. Dass ich immer gekämpft habe, nie aufgegeben habe, hat letztlich allein mit ihnen zu tun. Ich will nicht, dass sie irgendwann, wenn sie alt genug sind, den Eindruck haben, ihre Mutter habe damals gelogen. Sie sollen sich nicht schämen müssen für mich.
Ihretwegen will ich meinen Ruf wiederherstellen, für Gerechtigkeit kämpfen. Wenn es sein muss, bis zum Ende.
NZZ am Sonntag vom 17. Juni 2018. Aufzeichnung: Katharina Bracher