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Das Magazin, 7. Juli 2012

 

FEAR AND LOATHING IN VANG VIENG 

 

Backpacker aus der ganzen Welt zieht es in ein Dorf mitten im Dschungel von Laos. Allein letztes Jahr kamen 27 von ihnen nicht mehr lebend zurück. 

Daniel Ryser

Es ist stockdunkel. Die Grillen singen ohrenbetäubend laut, es ist feucht, das Trägershirt ist durchgeschwitzt. Bob sitzt auf seiner Veranda in Vang Vieng, einem Dschungeldorf in der Demokratischen Volksrepublik Laos, und trinkt Beerlao. Von weit her weht Musik durch die Nacht ... Tatsächlich ... Fuck ... Es ist Nena: «99 Luftballons». 

Jetzt ist Bobs Stimmung dahin. Sein wirklicher Name ist Sengku. Den hat er aufgegeben, als er vor fünfzehn Jahren nach Kanada ging, um dort Wirtschaft zu studieren und dann als Lehrer zu arbeiten. Die Kanadier konnten sich seinen Namen nicht merken, also nannte er sich Bob. 

Bob baut eine Schule in Vang Vieng, weil es mit der Bildung in Laos hapert. Kaum jemand hier spricht Englisch. Neben diesem Engagement führt Bob eine Protestaktion an gegen ein Geschäft, das eigentlich finanziellen Segen bringt: Die Backpacker sind in den letzten zehn Jahren in Scharen über Vang Vieng hergefallen, über 120 000 sind es jährlich in einem Dorf mit 20 000 Einwohnern, die meisten Einheimischen waren bis vor kurzem Bauern, Selbstversorger, jetzt führen sie kleine Geschäfte, in denen sie gefälschte Ray-Ban-Sonnenbrillen für zwei Dollar verkaufen und die immer gleichen Vang-Vieng-Shirts. 

«Als die Regierung ab 1985 die Grenzen für den Tourismus immer mehr öffnete, waren wir froh», sagt Bob. «Seit einiger Zeit aber gelten wir als Backpacker-Alternative zu , das mit Touristen überfüllt ist, und seither ist die Lage ausser Kontrolle geraten.» Die jungen Männer im Dorf würden stehlen, statt zur Schule zu gehen, und die Mädchen in Massagesalons arbeiten, sagt Bob und wischt sich verächtlich den Schweiss von der Stirn. Die Kinder gingen nicht mehr zur Schule, sondern lungerten vor den Touristenbars herum, wo sie um Geld betteln. Noch vor zehn Jahren hätten die einheimischen jungen Frauen lange Röcke getragen. «Erst kamen die Australier und dann die Engländer. Und alle rannten sie betrunken halb nackt durch das Dorf.» Heute kleideten sich die jungen Mädchen aus dem Dorf wie die be­trunkenen Touristinnen, sagt Bob und formt zwischen seinen Beinen ein Bikinidreieck, «so knapp, wie es nur geht». Er sagt, das Zentrum des Übels sei der Ort, von wo Nenas «99 Luftballons» herschallen: ein vier Kilometer langer Streifen entlang des Flusses, an dem es nur Bars gibt und wo sich Touristen völlig betrunken in alten, grossen Reifenschläuchen im Wasser treiben lassen. 

Lao-Lao in Kübeln 

Die drei Regeln der «Q Bar» am Nam Song River in Vang Vieng: «Be cool. Have fun. Make new friends.» Das brüllt Lattick, der kanadische Barmanager, der etwas über dreissig ist. «Eines kann ich dir klipp und klar sagen: Vang Vieng — ich schwörs dir, Mann — ist der beste Platz auf Erden!» 

Eminems und Lil Waynes Duett «No Love» dröhnt derart laut aus den Boxen der Open-Air-Bar, dass die Bauern in ihren Strohhütten in einem Umkreis von mehreren Kilometern nicht schlafen können — die Musik läuft täglich von morgens um zehn Uhr bis spätnachts. Westliche Hippies, Vorübergehend-Aussteiger und Studenten in den Semesterferien feiern hier ohne Pause. Lattick begrüsst die Neuankömmlinge, die vom anderen Ufer alle drei Minuten in einem Weidling über den Fluss geschifft werden, mit der Aufforderung, ein kostenloses Glas Tiger Whisky auf ex zu trinken. Das zu verweigern, das ist klar, geht nicht. Aber nüchtern hält man es hier sowieso nicht aus. 

An der Bar gibt es den lokalen Renner: fünfzigprozentigen Lao-Lao-Whisky in einem Plastikkübel, gemischt mit Cola und einem thailändischen Energydrink, dazu viel Eis. Es folgen Trinkspiele, es gibt Gras und Magic Mushrooms und eine überfüllte Tanzfläche. 

Und dann gehts in die Tubes, die Lastwagenreifen. Die «Q Bar» ist Startpunkt des Tubings. Ziel ist die vier Kilometer entfernte «Smile Bar» in Vang Vieng; bis dorthin ist es aber ein weiter Weg. Alle hundert Meter steht eine Bar, und dort «angeln» Barmit­arbeiter mit Seilen, an deren Ende Plastikhalterungen befestigt sind, nach den Treibenden. Erreicht sie der Wurf und greifen sie zu, werden sie an Land — zur Bar — gezogen. Und dort geht es weiter wie in der «Q Bar»: Begrüssungswhisky, Kübeldrinks für 30 000 Kip, das sind knapp vier Franken, Joints. Partymusik. Ein Tubing-Trip dauert im Schnitt sechs Stunden. Wer unten ankommt, kann nicht mehr laufen. 

In den Bars werden die Touristen zum Spass mit Farbe besprüht. Und wenn sie dann nach dem Trip dreckig an Land kommen und mit roter und blauer Farbe verschmiert durch die Stadt schlurfen, «dann sehen sie aus wie Zombies». Das hatte mir Bob in der Nacht zuvor erzählt. Und mit Nachdruck hatte er gesagt: «So nennen wir Einheimischen sie: Zombies.» 

Die Dummen ertrinken 

Falls sie denn unten ankommen. 2011 sind in Vang Vieng laut örtlichem Krankenhaus 27 Touristen beim Tubing ertrunken. Viele verletzten sich zudem bei Sprüngen in den vermeintlich tiefen Fluss. Das australische Aussenministerium hat kürzlich Reisewarnungen für Laos und speziell für Vang Vieng erlassen, nachdem Anfang Januar innerhalb einer Woche zwei junge Australier, einer 19, der andere 26, beim Tubing ertrunken waren. Bei «sportlichen Aktivitäten» am Fluss in Vang Vieng sei «höchste Vorsicht geboten», schreibt das Ministerium. Doch Lattick, Manager der «Q Bar» — blonde, lange Haare, Beerlao-Mütze, auf der Wade ein Tattoo der kalifornischen Punkband Sublime —, will von diesem «Zombie-Mist» nichts wissen. «Es gibt Leute, auch Backpacker, die sich be­schweren, das hier sei nicht das wahre Laosund der Lärm sei unerträglich. Aber wir tun was für die Leute, für die Wirtschaft. Es gibt genug Bauern, die uns nachts zum Essen einladen und uns an wirklich traditionelle, ja geheime Ort führen. Ich sage dir: Diese Bar hier, die ‹Q Bar›, das ist Laos pur! Und es ist viel geiler hier als in Thailand, weil kleiner und entspannter. Die Rechnung geht so: Laos, das ist Thailand minus Vollidioten.» 

Hat er als Chefabfüller kein schlechtes Gewissen, die Leute derart verladen in den Fluss zu schicken? Lattick verstummt, während er Shots an Neuankömmlinge verteilt. «Okay», sagt er dann, als hätte er so was geahnt, seit ich mich als Reporter vorgestellt hatte, und macht eine dramatische Pause. Sein Blick wird plötzlich ziemlich irre und seine Haltung sehr, sehr feindselig. «Für welches Magazin schreibst du noch mal?», fragt er. 

«Hey, keine Bange, das hier ist der beste Ort auf Erden!», lüge ich. «Wunderbar», freut sich Lattick, zieht mich von der Meute weg und offeriert ein weisses, kristallähnliches Pulver. Zwei Minuten später sind Lattick und ich beste Freunde. Ich verspreche vollumfängliche Berichterstattung, und er legt dafür als Erstes ein attraktives Teenagermädchen auf einen Holztisch, fordert sie auf, die Augen zuzuhalten und den Mund aufzumachen, und dann leert er ihr fünf Sekunden lang Whisky in den Mund. Sie schluckt und schluckt, bis sie spuckt. Lattick kreischt, und sie umarmt ihn, bevor sie grinsend davontorkelt. Dann erklärt mir der Fan kalifornischer Punkmusik die Lage: «Niemand ertrinkt, weil er betrunken ist! Die Leute ertrinken, weil sie dumm sind! Dabei spielt der Alkohol keine Rolle. Der Letzte, der ertrunken ist, war so ein bescheuerter Ire. Das war vor etwa drei Wochen. Er hatte sogar gesagt, dass er nicht schwimmen kann. Aber dann hat er sich trotzdem in einen Ring gesetzt.» Lattick zeigt auf das andere Flussufer. Etwa fünfzig Meter abwärts liegt die «Why Not?»-Bar». Der junge Tourist aus Irland schaffte es nach einigen Stunden in der «Q Bar» offenbar grad noch knapp über den Fluss. «Er wollte dort aussteigen, um weiterzutrinken, und ist abgerutscht. Er fiel in den Fluss und schrie um Hilfe, aber sein Kumpel war zu betrunken, um ihn hochzuziehen, und hat ihn einfach losgelassen. Er verschwand in der Strömung. Wie dumm muss man eigentlich sein?» 

Kathie, eine 21-jährige attraktive PR-Studentin aus dem australischen Perth, die einen knappen Bikini und am linken Arm einen Gipsverband trägt, wäre beinahe die Nächste gewesen auf der langen Liste toter Touristen in Vang Vieng. 

«Ich dachte, mir kann doch gar nichts passieren», sagt sie, als wir auf der Veranda des «Backpacker Inn» sitzen. Sie war zwei Tage zuvor— nachdem sie auf der Tubing-Tour mit einer Freundin Plastikkübel voller Alkohol getrunken hatte — von einem Felsen in den Nam Song gesprungen. Der Fluss war an dieser Stelle aber nur brusthoch, ein Stein tat den Rest. «Der Arzt erzählte mir, die Leute sterben hier häufig genau so: Sie ertrinken meist gar nicht, sondern sie springen be­trunken an der falschen Stelle ins Wasser und schlagen sich den Kopf auf.» 

Wenn Ende Mai die Vorlesungen an der Uni für zwei Monate vorbei sind, reisen Tausende junge Australier nach Thailand, viele fliegen über Bangkok nach Ko Phangan zur legendären monatlichen Vollmondparty. Und immer mehr reisen anschliessend wie Kathie weiter nach Laos. 1999 verzeichnete das Land, in dem fast achtzig Prozent der Bevölkerung mit weniger als zwei Dollar pro Tag leben, 600 000 Touristen jährlich. Mittlerweile sind es über zwei Millionen. Und das bringt dem Land jährlich 260 Millionen Dollar ein. 

In einem reichen Land wie der Schweiz wäre Tubing längst verboten oder zumindest unter strenge Auflagen gestellt. Doch wer will es in einer derart armen Region wagen, den Touristen den Spass zu verderben? Also überlässt man die Entscheidung lieber Leuten wie dem Kanadier Lattick, die wissen, was ihre Gäste wollen. Der gibt ihnen, nachdem er sie abgefüllt hat, ein «Stay safe» mit auf den Weg, wenn sie be­trunken in ihren Reifen zur nächsten Bar weitertreiben. 

Kathie sagt, in Australien heisse es, Vang Vieng sei eine wilde, ursprüngliche Version von Thailand. Deshalb sei sie mit ihrer Freundin hergekommen. Das bedeute auch, überall gebe es Drogen — «awesome! Zum Beispiel diesen Shake hier», lächelt sie, als unsere Bestellung kommt. Das Getränk, das uns serviert wird, kostet wesentlich mehr als ein üblicher Shake — es ist ein Magic Banana Shake. 

Die Barbetreiber offerieren sie auf der Speisekarte. Es gibt Magic Shakes und Zauberpizzas und spezielle Brownies. Und am Tresen, sagt Kathie, bekommt man auf Anfrage Opium. Nach je zwei Shakes, die wie Kuhscheisse riechen, bleiben wir für sechs Stunden auf unseren Sitzkissen hocken, eher liegen, wir versinken. Und freuen uns, dass das Restaurant an diesem Nachmittag menschenleer ist, weil wir andere Leute ausser uns zwei Verbündete in der Magic-Mushroom-Welt sowieso nicht ertragen würden. Und wie bequem die Kissen doch sind. Und wie nett die Menschen in Laos. Überhaupt nicht aufdringlich wie in Thailand, sagt Kathie, wo sie dir andauernd irgendwelche Sachen andrehen wollten. «Und hast du gewusst», fragt sie, «dass sie hier in Laos derart tolerant sind, dass sie mit all ihren Religionen fünfmal Neujahr zelebrieren?» 

In jeder zweiten Bar in Vang Vieng — es sind zur Strasse offene Bambushütten mit Strohdächern — laufen auf grossen Bildschirmen, der Ton laut aufgedreht, jeden Tag und ununterbrochen Wiederholungen der TV-Serie «Friends». Es ist, als wollten die Amerikaner hier allen klar- machen, dass sie den Vietnamkrieg doch nicht verloren haben: Die Stimme von Jennifer Aniston trägt mich durch das Dorf tief im laotischen Dschungel. 

«Der Preis ist zu hoch» 

Noch vor fünfzig Jahren traf man in Vang Vieng auf wilde Tiger. Es lebten bloss einige Hundert Bauern hier. Während des Vietnamkrieges wirbelten Flüchtlingsströme das Land durcheinander. Aus dem Bauerndorf wurde ein riesiges Flüchtlingslager. Um sich eine Lebensgrundlage zu schaffen, holzten sie den gesamten Wald rund um das Dorf ab und verkauften das Holz ins Ausland. Danach gab der Boden nach und rutschte auf mehreren Kilometern Länge in den Nam Song. Seither ist er noch halb so breit. Das zerstörte die Fischpopulation und die Lebensgrundlage der lokalen Fischer. Nach dem Krieg war Vang Vieng ärmer als vorher. 

Nun regierte in Laos nicht mehr der König, sondern die Laotische Revolutionäre Volkspartei, und es folgten Jahre der Abschottung. Dann — das Land hatte sich inzwischen gegenüber dem Tourismus geöffnet — zog Thanongsi Sorangkoun Mitte der Neunziger zurück nach Vang Vieng. Seine Eltern hatten ur­sprünglich hier gelebt, waren aber in die Hauptstadt gezogen und hatten dort als Weber ein wenig Geld verdient. Mit diesem Geld baute Sorangkoun, den hier alle nur Mr. T. nennen, eine Farm auf, die Organic Farm, die schnell immer grösser wurde: Pflanzenfelder für Konfitüren und Grüntee, eine riesige Seidenraupenzucht, Hühner, Schweine, Avocados und rund um die Farm Zitronengras, um die Schlangen fernzuhalten. Zur Farm gehören auch fünf Ziegen sowie eine eigene Schule, wo Freiwillige, Backpacker aus der ganzen Welt, den Kindern aus dem Dorf Englisch beibringen, «in der staatlichen Schule wird das nicht angeboten». 

Es war Mr. T., der das Tubing erfunden hat und sich dafür heute sehr darüber ärgert. Er hatte den Freiwilligen, die hier unterrichten, etwas bieten wollen. Also flickte er alte Schläuche, damit sich die freiwilligen Helfer den Fluss hinabtreiben lassen konnten bis ins Dorf. Tourismus gab es zwar schon, aber im kleinen Stil. In einer Bambushütte wechselten zwei Männer den Touristen ihre Travellerchecks. Es war die einzige Möglichkeit, Geld zu be­ziehen. Für einen 100-Dollar-Check er­hielten die Reisenden einen Plastiksack voller Noten. Heute stehen in Vang Vieng zwei riesige Bankgebäude und mehrere Geldautomaten. Denn jemand entdeckte das Tubing als Geschäftsmodell, und so steht die «Q Bar» genau am anderen Ufer der Organic Farm. Die Schule hat Mr. T., ein kleiner Mann mit verstümmelten Fingern, der eigentlich ganz freundlich wirkt, inzwischen ausgelagert, «weil das mit dem täglichen Lärm nicht mehr funktionierte». Da schaut er dann plötzlich, als würde er gleich jemanden umbringen. Der Preis, sagt er, den man zahle, sei zu hoch. «Wir haben unsere Kultur verkauft.» Seine aus Lehm gebauten, kühlen Gästehäuser auf dem Farmgelände stehen leer: «Die Leute buchen sie, doch wenn sie hier an­kom-men, drehen sie gleich wieder um. Warum tut ihr nichts gegen diesen schrecklichen Lärm?, fragen sie.» 

Das wäre dann die Aufgabe von Mr.Pseg und seiner jugendlichen Polizeitruppe. Mr. Pseg ist der Chef, und deshalb sitzt er auf dem einzigen Stuhl im Büro, der sich unter seinem Gewicht nach hinten biegt. Grade versucht er, mit der Hand einen Moskito totzuschlagen. Hinter ihm hängt eine rote Fahne mit gelbem Hammer-und-Sichel-Logo. Sein weisses Unterhemd hat er bis zur Brust hochgerollt, auf dem grossen Bauch kullern Schweisstropfen nach unten, und er fragt zuerst mich und dann einen seiner sehr jungen Kollegen, ob das wirklich so eine gute Idee sei, einen Artikel zu schreiben über die Gefahren des Tourismus in Vang Vieng. «Wir leben ganz gut hier vom Tourismus», sagt er. «Erst Anfang des Jahres habe ich einen neuen Dienstwagen bekommen, einen Toyota Vios mit Blaulichtern am Frontspoiler. Ich kann mich nicht beklagen.» Während ich mir vorstelle, wie Pseg mit glänzendem neuem Toyota und Blaulicht durch den Dschungel schiesst, will er wissen, wo ich wohne, und notiert sich den Namen des Hotels. Dann sagt er: «Wir haben eine Abmachung, dass die Bars am Fluss um 17 Uhr schliessen müssen. Aber wenn ich ausrücke, um das zu kontrollieren, werden die Betreiber gewarnt. Und bis ich vor Ort bin, ist der Laden dicht. Kaum bin ich weg, geht die Party wieder los. Was will man machen?» 

Die Heilige und der Doktor 

Zurück auf der Organic Farm von Mr. T. Auf einem Plastikstuhl sitzt Victoria, eine junge Frau aus New York mit Luzerner Wurzeln. Sie ist die Antithese zu den Bikini-Sauftouristen. Sie trägt einen langen Rock bis zu den Knöcheln (aus Respekt vor der buddhistischen Kultur, sagt sie), und sie ist eine jener Backpackerinnen, die gekommen sind, um in Mr. T.s Schule Englisch zu unterrichten. In ihren Augen, den Augen einer politisch korrekten Backpackerin, ist Vang Vieng «die Hölle». «Ich wollte hier eigentlich einige Monate Englisch unterrichten, bevor ich im Herbst in New York beginne, Wirtschaft zu studieren. Aber nächste Woche ziehe ich weiter nach Kambodscha.» 

Phetsamone Boulommavong, der Direktor des lokalen Krankenhauses, sagt: «Wir kennen die exakte Zahl der Verletzungen mit Todesfolge nicht, weil viele Touristen je nach Schwere der Verletzung oder der Art ihrer Unfallversicherung umgehend mit dem Helikopter in die Hauptstadt Vientiane ausgeflogen werden. Was dort mit ihnen passiert, erfahren wir nicht.» Zehn Tote bisher — das sei die Bilanz von 2012. Boulommavong, ein Mann mit einem ku­gelrunden, lustigen Gesicht, spricht ruhig und bedächtig und lächelt dabei immer: «Jede Woche haben wir hier Fälle von Leistenbrüchen, die sich die jungen Reisenden bei Sprüngen zuziehen. Die können wir hier nicht behandeln. Also fahren wir die Verletzten in die Hauptstadt — es ist eine vier­stündige, extrem schmerzhafte Horrorfahrt über holprige Strassen. Wir haben vom Boom zwar durchaus profitiert und aufgerüstet, aber wir sind hier nach wie vor bloss ausgerüstet für normale Brüche, aber nicht für Schädelbrüche, zertrümmerte Rücken oder ausgeschlagene Augen.» 

Der Held von der «Smile Bar» 

Draussen vor einer Tür, die mit «Emergency» angeschrieben ist, sitzt ein junger Mann. Er hat das Gesicht in den Händen vergraben und schluchzt: «Mein Leben ist vorbei.» Diese Nacht vergesse er nicht so schnell, sagt sein Kumpel. «Wir sind zwei Dokumentarfilmer aus Dänemark und drehen eigentlich einen Film über Reptilien. Vor der Rückkehr nach Kopenhagen wollten wir aber noch einen drauf- machen.» 

In der «Smile Bar» in Vang Vieng trank sein Begleiter zu viel und liess sich von ein­heimischen Mädchen abschleppen. Später im Zimmer zeigte sich: Die beiden sahen nur aus wie Mädchen. «Die Ladyboys ga­ben Erik Speed. Dann geriet alles ausser Kontrolle.» 

Ein paar Tage später lerne ich den lokalen Opiummarkt kennen — mit Michael, einem gross gewachsenen, blonden, braun gebrannten Engländer mit hagerem Gesicht, der zehn Jahre älter aus­sieht als die 34, die er angibt zu sein. Bis vor einigen Jahren arbeitete Michael in London für eine grosse Investmenbank. Dann stieg er aus, zog mit dem Rucksack durch Asien, lebte wie ein König von seinen Ersparnissen und hat nun wieder Ar­beit gefunden: Als kleiner Opiumschmugg­ler und Grasverkäufer in T dem «goldenen Dreieck», dem früher weltweit grössten Umschlagplatz für Opium. In Vang Vieng, behauptet er, «mache ich einfach nur Ferien». Sein Tagesablauf sieht hier so aus: Zum Frühstück gibt es in der Bar um die Ecke einen Magic Shake und Würste mit Ei. Danach fährt er mit dem Bus hoch in die «Q Bar», wo er sich direkt neben dem Tresen mit Kokain im Halbstundentakt «frisch macht», jungen Touristen Gras verkauft und sich mit unzähligen Gin Tonics gegen Malaria schützt — «das Chinin spült das Gift der Mücken aus meinem Körper», frohlockt er. Und abends dann, für einen tiefen Schlaf voller erotischer Träume, trinkt er einen Opiumtee. 

Im lokalen Drogengeschäft überlebe man, indem man jedem Asiaten misstraue, ausser jenen, die man sehr gut kenne, sagt Michael. «Damit unterscheide ich mich in der Methode nicht von den Backpackern. Ist dir aufgefallen, dass hier in allen Bars Leute aus dem Westen arbeiten? Dass mit ‹Gasthäusern wie daheim in Irland› ge-worben wird? Dass die Bars, die am besten besucht sind, ‹Gary’s Irish Pub› oder ‹Aussie’s Sport’s Bar› heissen? Die Leute reisen Tausende Kilometer hierher, obwohl sie eigentlich nicht wegwollen.» 

Zweimal sei er schon — mit Drogen erwischt — von Polizisten zu einem Bankomaten eskortiert worden, «wo ich alles abheben musste, was ich hatte, um das Gefängnis zu umgehen». In Laos funktioniere das , im Gegensatz zu Thailand. Später reicht er mir in seinem luxuriösen Bungalow mit riesiger Veranda und Blick auf Fluss, Wälder und Berge, eine qualmende Opiumpfeife und eine Tasse mit Opiumtee. Mein Handy klingelt. Mein Chef ist dran. 

«Wie läuft es im Dschungel?», fragt er. 

«Ich kann grad nicht reden.» 

«Warum?» 

«Weil ich gerade Opium rauche.» 

«Wie bitte? Das geht nicht! Und das hat mit der Geschichte nichts zu tun. Komm sofort nach Hause!» 

Als ich acht Stunden später wieder zu mir komme, ist die Matratze durchgeschwitzt. Mein linker Arm ist fast völlig lahm, meine Zunge taub und Michael verschwunden. Ich laufe durch die Stadt, den Hotelschlüssel habe ich längst verloren, und der einzige Ort, nach dem ich mich in diesem Moment sehne — halbseitig ge­lähmt und verwirrt und verstochen von Moskitos —, ist die «Q Bar». 

Und kaum dort angekommen, treffe ich Kathie, die Australierin mit dem banda­gierten Arm, und ihre Freundin Michelle. Die beiden kümmern sich rührend um mich, ge­ben mir Mangosaft zu trinken und Gin Tonics, die ich unbedingt verlange, wegen der Malaria, wie ich sage. Lattick brüllt in ein Mikrofon, ab sofort gebe es eine Runde Lachgasballons aufs Haus. Und ich frage ihn, was es denn mit «Friends» auf sich habe, der TV-Serie, die überall im Dorf pausenlos ge­zeigt wird. «Ich sage es dir, wenn du diesen Lachgasballon leer machst», brüllt er mich an. Ich mache ihn leer. Als mein Hirn zwei Minuten später wieder funktioniert, frage ich: «Und?» — «Ich habe keine Ahnung!», lacht Lattick laut und marschiert davon. 

Dann, wieder sind Stunden vergangen und Kathies verletzter Arm ist inzwischen in einen Plastiksack gewickelt worden, «tuben» Kathie, Michelle und ich langsam den Fluss hinunter. Irgendwo in der Mitte legen wir in einer Bar eine Pause ein, trinken kühles Bier und Lao-Lao-Shots, schau­en einigen Engländern zu, wie sie sich an Seilen in den Fluss hinausschwingen. Flussabwärts entdecken wir am Ufer ein Schild, auf dem geschrieben steht: «Do not jump here or you will die». An der nächsten Bar lassen wir uns mit wasserfester Farbe besprühen. Auf meinem Rücken sind blaue Streifen und auf meinem Bauch rote Herzen. Wir alle lachen. Als ich in Vang Vieng ankomme, bin ich ein Wrack.   

Vang Vieng ist eine wilde, ursprüngliche Version von Thailand. Überall gibt es Drogen. Magic Shakes, Zauberpizzas und spezielle Brownies. In den Bars gibt es auf Anfrage Opium. 

Daniel Ryser ist Reporter des «Magazins». daniel.ryser@dasmagazin.ch